Wer sich mit Behörden arrangieren muss und des rationalen Denkens und Kombinierens fähig glaubt, gelangt irgendwann an den Punkt, am eigenen Verstand zu zweifeln. In der Schule gab es für offensichtliche Fehler beim Rechnen Punkteabzüge durch einen qualifizierten Lehrer. Im bürokratischen Verwaltungsapparat unterliegt die Kontrolle dem Bürger, der, will er nicht blind vertrauen, Rechtsanwälte beauftragen oder ein Jurastudium absolvieren muss.

Es ist kein Geheimnis, wie demütigend bürokratische Prozeduren wirken, und doch gibt es genügend Menschen, welche diesen Betrieb durch ihre kritiklose Mitarbeit am Laufen halten. Sie machen, wie man so schön sagt, ihren Job. Jeder in seiner Abteilung, an seinem Platz. Die Koordination fachübergreifender Angelegenheiten obliegt einer oder mehreren übergeordneten Leitungsinstanzen: Hierarchische Strukturen, die in ihrer Gesamtheit niemand wirklich kontrollieren, geschweige denn durchschauen kann.

Warum und wofür haben wir dann in der Schule rechnen gelernt?

Das Rechnen, Ordnen und Vergleichen liegt in der Natur des Menschen. In hingabevoller Ausdauer erkunden kleine Kinder die Dinge ihrer Umgebung, um sie nach Form, Größe, Farbe und allen sinnlich erfassbaren Eigenschaften zu sortieren. Neugierig erforschen sie die Welt, in welche sie geboren wurden, sich in ihr bewegend zurecht- und wiederzufinden.

Mit zunehmendem technischen Fortschritt scheint der Ratio die Sinnlichkeit abhanden gekommen zu sein. Heute gibt es Lehrer, die Grundschulkindern verbieten, mit ihren Fingern zu rechnen.

Jutta Riedel-Henck, 10. August 2024

 

aus: Jutta Riedel-Henck. Musikempfinden: Das Lied der stummen Seele. 30. Juli 2024 – ...