Sich der eigenen Gefühle anzunehmen, sie gedanklich zu reflektieren, gehört zum kleinen Einmaleins des Menschseins. Was aber, wenn der Mensch in ein Meer tief verdrängter Emotionen geboren wird?

Meine Tochter war ein sogenanntes Schreibaby. Babys, die ohne ersichtlichen Grund trotz Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse unstillbar schreien, leiden unter Regulationsstörungen, heißt es in der psychologischen Fachwelt. Ich habe viel geforscht, gelesen, unzählige Einzelfälle studiert, mich mit anderen Betroffenen ausgetauscht und sehe die Ursache für das unerklärliche Schreien jener Babys in ihrer hochsensiblen Empfänglichkeit für die kollektive Unterdrückung unerwünschter Emotionen.

Der Psychiater, Psychoanalytiker und Autor Hans-Joachim Maaz spricht von einem Gefühlsstau. Von Angst und Wut getriebene Gewalttaten wirken gleich einem Erdbeben oder dem Ausbruch eines Vulkans. Wer dem „Warum“ all der schrecklichen zwischenmenschlichen Kriege auf den Grund spürt, begegnet heftigen, vom Kollektiv getragenen, gepflegten und geförderten Abwehrreaktionen. Niemand möchte gesellschaftlich verpönte Emotionen in sich selbst erkennen, geschweige denn für sie verantwortlich sein.

Um es gleich vorwegzunehmen: Ich weiß nicht, was andere Menschen erlebt und erlitten haben. Meine Perspektive ist und bleibt vollkommen subjektiv. Ebenso wenig ist mir gegeben, in deren Mokassins zu laufen, ohne sie durch meine individuelle Gangart umzuformen. Ich mache mir alles zu eigen, nehme es persönlich. Die so gerne und oft geforderte wissenschaftliche Objektivität halte ich für ein theoretisches Konstrukt, das am wirklichen Leben zerbrechen muss. Ich bin weder neutral noch frei von Wertungen und Egoismus.

Ich wünsche mir Frieden, ein freundliches Miteinander, gelassene Umgangsweisen und Menschen, vor deren unberechenbarem Verhalten ich mich nicht fürchten muss. Dafür tue ich, was ich kann. Deshalb schreibe ich. Wohin das führt? Wenn ich das wüsste, wäre ich bereits am Ziel und könnte mir diese Arbeit sparen.

Jutta Riedel-Henck, 8./9. August 2024

 

aus: Jutta Riedel-Henck. Musikempfinden: Das Lied der stummen Seele. 30. Juli 2024 – ...