Cuxhaven Strand Ball

Warum sehnt sich der Mensch nach einer geschlossenen Ordnung? Weil er sie nicht spürt? Warum nicht? Was steht der Erkenntnis im Weg?

Seine eigene Zerrissenheit, sein ständiges Nein, das er ebenfalls abstreitet. Er ist verliebt in seine Kopfgeburten, das Bild von seinem Selbst, um es damit in seiner Lebendigkeit zu verraten.

Denken im Fluss der Gezeiten. Der Strömung des Wassers.

Bin ich am Meer, möchte ich bleiben.

Wir haben uns die Sinne verbaut mit all den in Stein gemeißelten Gesetzestexten. Die 10 Gebote. Ach Gott. Wo ist dein Zeigefinger? Herr Oberlehrer? Gott lacht. Er hat keinen.

Kleine Kinder zeigen auf alles in ihrer grenzenlosen Entdeckerfreude: Da, da, daaaaaaaaaa! Und da! Guck mal, Mama! Guck mal, Papa! Daaaaaaaaaaa! Daaaaaaaaaaaa!

Und die Eltern? Wohin schauen sie?

In Cuxhaven sitze ich auf einer Treppe am Strand und esse ein Brötchen. Neben mich setzt sich eine junge Mutter. „Hier könnt ihr euch jetzt noch austoben, bevor wir gehen!“, sagt sie zu ihren beiden Söhnen, die einen Ball in den Sand werfen. Die Frau nimmt ihr Smartphone und beginnt zu lesen. Ihre Kinder wollen nicht toben. Ohne sie. Rufen nach ihr. Die Mutter vertröstet sie: „Gleich ...“ ... immer wieder. Und weiter. Die Jungen lassen nicht locker.

Auch aus anderen Richtungen höre ich nörgelnde Kinderstimmen und zurechtweisende Erwachsene. Warum sind sie hier? Am Meer? Das uns einlädt loszulassen? Uns gehen zu lassen? Hinzugeben der Unendlichkeit allen Lebens?

Die Kinder wollen nicht toben. Der Ball liegt unberührt im Sand. Sie wollen leben, fließen, sich bewegen lassen. Ihre Mama sitzt da und verweist sie in die Zukunft.

Gleich ... gleich ... gleich ...

Das Brötchen habe ich aufgegessen. Die Frau starrt noch immer auf ihr Smartphone. Die Kinder geben nicht auf. „Nicht in diesem Tonfall!“, ruft sie unwirsch. „Euer Tonfall gefällt mir nicht!“ Und deiner erst, denke ich im Stillen an die Frau gewandt.

Ich gehe zum Meer. Laufe durch das Watt. Die vielen Pfützen. Hinein in die Unendlichkeit des Horizonts. Auf dem Rückweg überholt mich eine ältere Frau. „Ist das nicht schöööööööööööön?!“, ruft sie mir zu. „Jaaaaaaaaaa!“, antworte ich. Mehr gibt es nicht zu sagen.

Es ist schön. Wunderschön. Ich möchte hier am liebsten nie mehr weg.

 

aus: Geldwertgefühl. Deinstedt: Kompost-Verlag, 2022, S. 137–139.

 

Cuxhaven Watt-Boje