(Nach-) Ruf eines freien Vogels
„»Kunst ist Ausdruck einer psychischen Not, und man macht sie nicht mal zwischen Tür und Angel«, erklärte Herbert Henck in einem Interview mit Arnulf Marzluf vom Bremer Weserkurier, das am 25. Juni 1996 erschienen ist.“
So beginnt die Einleitung eines Nachrufes „auf den Pianisten Herbert Henck“ von Thomas Groetz, erschienen am 29. Januar 2025 im van-magazin.
Meine erste persönliche Begegnung mit Herbert Henck war am 28. September 1984 im Sendesaal von Radio Bremen. Für die Produktion der „Triadic Memories“ von Morton Feldman hatte mich die Sekretärin der Abteilung „Neue Musik“ als Notenwenderin engagiert. Herr Henck sei immer so schwierig, warnte sie.
Eine Dose Coca-Cola hatte er sich als Pausengetränk bereitgestellt. Erfahren im Umgang mit sensiblen Pianisten hielt ich mich zurück, beobachtete mitfühlend seine über die Noten wandernden Augen, um das Herannahen der Schwelle zu erspüren und das Blatt sanft und geräuschlos zu wenden.
Fünfeinhalb Jahre später erzählte ich ihm von dieser ersten Begegnung, woran er sich nach aller Mühe des Sichzurückversetzens nicht erinnern konnte.
„Ich habe nochmals diverse alte Kalender gewälzt, um den Zeitpunkt unserer ersten Begegnung vielleicht zu finden; daß ich mich nicht mehr an Dich erinnere, ist mir natürlich peinlich, aber nach oft wochen- und monatelanger Vorbereitungszeit spitzt sich das Leben solchermaßen auf die Stunde zu, in der man sein Bestes als Künstler zu geben hat (sonst könnte ja alles umsonst gewesen sein), daß man nur noch Augen und Ohren für die Musik hat und jemand Fremdes, der plötzlich in einem Augenblick höchster Konzentration und Hingabe neben einem sitzt, zu einer Bedrohung, einer Quelle der Ablenkung oder Störung werden kann.“ (Herbert in einem Brief an Jutta vom 14.3.1990)
Nicht auf leisen Sohlen, sondern in Socken hatte ich neben ihm gesessen, nachdem ich meine Schuhe auszog, deren Reibung auf dem glatten Parkettboden quietschende Geräusche erzeugte.
Unbemerkt zu sein und bleiben, gehört zu meiner wesentlichen, bewusst gewählten Eigenart. Die wahre Weiblichkeit hat kein Gesicht, spielt nicht mit Reizen, Lippenstift und Masken. Sie wirkt im Egolosen, Unpersönlichen als Wasser des Lebens, dem Meer, aus dem das Sein in die Zeit fließt, vergänglich wie der Atem Klänge haucht, deren Niederschlag im physisch Greifbaren der Mystik Ende bedeutet.
Worin besteht die Not der Psyche? Im Bild, mit dem der Mensch gleich einem Käfig die ungreifbaren Klänge jagt, sie einzufangen und zähmen wie einen wilden Vogel, dem männlichen Geist untertänigst zu gehorchen.
In Wahrheit gibt es keine Trennung zwischen weiblich und männlich. Gott, du und ich, wir sind alles in einem. Eine Erfahrung, die wir nur im Bilderlosen finden, um uns selbst zu empfinden in vollkommener Harmonie mit unserem Herzen.
Den Kompost-Verlag gründete ich im September 1988, zweieinhalb Jahre bevor ich mich gemeinsam mit Herbert auf den Weg machte, das Teuflische zu ergründen mit dem Ziel der Heilung psychischer Not(en). Die Eingabe, Herbert anzubieten, seine „Fürsprache für Hauer“ in meinem Verlag herauszubringen, erhielt ich am Geburtstag des Komponisten, ohne mir dessen bewusst gewesen zu sein. Intuition ist weiblich. Ohne sie ist der Geist richtungslos und droht, in die Irre zu führen. Ich blieb und bleibe meiner Weiblichkeit treu, um niemals einem Geist zu folgen, der sich ihrer mächtig glaubt.
Jutta Riedel-Henck, 2. Februar 2025