Ich weiß nicht, ob „die“ Deutschen ängstlicher sind als Menschen anderer Nationen. Angst ist ein schwer erträgliches Gefühl. Demnach streben wir danach, es loszuwerden, indem wir irgendetwas tun, um uns besser zu fühlen.

Womöglich lernt jeder Mensch anders, mit seinen Ängsten umzugehen, und es liegt nahe, dass er sich an dem orientiert, was er vorgefunden hat am Ort seiner Landung, in der Familie, Umgebung, Gesellschaft, Kultur.

In Deutschland gilt Fleiß und Arbeit als wertvolle Tugend. Entsprechend eignet sich diese als Kompensationsmöglichkeit für die mangelnde Fähigkeit, Gefühle der Angst zu verarbeiten bzw. von ihnen abzulenken.

Wenn ich meine Einkommensteuererklärung bearbeite, Belege sortiere, deren Daten gemäß den vorgefertigten Formularboxen einer Buchhaltungssoftware eingebe, scheint meine geistige Welt in Ordnung. Alles hat seinen Platz, ich bewege mich gedanklich und damit auch emotional in geregelten Bahnen.

Was aber, wenn es Daten gibt, welche aus dem vorgegebenen Rahmen fallen?

Dann muss die Software aktualisiert werden, Formulare umgestaltet, erweitert, mit Fußnoten und Anmerkungen versehen. Eine nie enden wollende Arbeit … Gibt es jemals das perfekte Computerprogramm für ausnahmslos alle Fälle?

Ähnlich gestaltet sich die Suche nach Ordnung im Umgang mit Gesetzestexten. Womöglich sind sie längst perfekt in ihrer Gesamtheit, wie überhaupt alles bereits Notierte, Geschriebene, Errechnete … Aber: Wer hat den Überblick? Den ganzen? Um uns vor jeder nur erdenklichen Unsicherheit zu bewahren? Wo ist der liebe allwissende gütige uns beschützende Gott in Menschengestalt, auf den wir uns total verlassen können? Der uns nie enttäuscht? Dass wir Kind sein dürfen? In vollem Vertrauen, alles richtig zu machen? Frei von jenen Gefühlen, die uns Angst machen, in die Flucht treiben?

Ich kenne ihn nicht, diesen Gott in Menschengestalt. Weder physisch manifestiert noch als Bild in meiner Vorstellungswelt.

Was ich auch tue, ich sprenge jeden formellen Rahmen und begehe einen Fehler nach dem anderen. Weil ich mehr bin als das, was ich sehe und (be-)greife, all den Sicherheitsfanatikern zu beweisen vermag.

Bürokratie, Buchhaltung gaukelt uns eine Ordnung vor, die dem wahren Leben niemals gerecht wird. Weder ganz noch ein bisschen. Denn was nützt das Bisschen, wenn es mir nur ein zweifelhaftes Gefühl von Sicherheit verschafft? Es sich als giftiger Happen entpuppt, inkompatibel mit allen Bissen, Teilen, aus der sich die ganze Welt zusammensetzt?

Ich traue meiner Intuition. Möge mir das verbieten und schlecht reden, wer will. Sie allein führt mich zur Weisheit Gottes, dem ich mein Leben verdanke. Immer wieder, immer weiter.

Jutta Riedel-Henck, 31. August 2024

 

aus: Jutta Riedel-Henck. Musikempfinden: Das Lied der stummen Seele. 30. Juli 2024 – ...