Wer hört dieser von Menschen gemachten Welt(musik) eigentlich zu? Wenn sie doch nur der Wahrnehmung des Menschen entspringt? Kann ich mich selbst hören? Nein. Und den anderen gibt es nicht. Zumindest habe ich dafür keine Beweise.

Das hohe Gericht weiß alles. Warum sollte es Beweise fordern? Das hohe Gericht weiß um jeden Ton, den du singst – durch dich. Auch wenn du schweigst und andere singen lässt. Um dir die Zunge nicht zu verbrennen. Was du wahrnimmst, ist dein Gesang!

Gott lässt dich alles singen. Du kannst grunzen wie ein Schwein und fressen, was dir vor die Füße geworfen wird. Krähen wie ein Hahn umzingelt von gackernden Hennen. Schweigen wie ein Mönch umringt von Klostertaler Spatzen.

Es ist dein Konzert. Wo auch immer du bist. Ob Chorsänger oder erster Geiger, Pianist oder alpiner Jodler, Schlagerstar oder Opernclown. In Badewanne, Auto oder Kölner Dom. Du bist. Solist. Und niemand hört dich.

Sind wir taub? Nein! Allein? Ja und Nein. Du bist ein und alles. Ich bin ein und alles. Jeder ist ein und alles. Alles schwingt.

Erinnerst du dich an das erste Mal, als du deine von einem Tonband aufgenommene Stimme hörtest? Es klang befremdlich …

Ich erschrecke manchmal, wenn ich auf der Straße gehe, mich in einer Schaufensterscheibe gespiegelt sehe und beim Weitergehen beobachte. Bis dahin fühlte ich mich frei und unbeschwert. So sehe ich aus? Für andere? Oder sehe ich so aus, wenn ich mich beobachte wie eine Fremde?

Hat Narziss sich in sein Spiegelbild verliebt, oder war er selbst in Liebe, während er in den Spiegel schaute?

In Liebe zu sein schließt alles ein. Auch das Bild im Spiegel. Es schwingt in Resonanz mit mir, verstärkt mein Liebeslied. Ohne mich gibt es kein Bild von mir im Spiegel, keine Reflexion, keinen Widerschein.

Was hat Narziss zurückgewiesen? Das Echo seines eigenen Gesangs? Oder den Gesang einer Verliebten ohne Eigenleben?

Die narzisstische Wut gilt dem, der nicht in Liebe ist.

Im Verliebtsein erwartet der Nicht-selbst-in-Liebe-Seiende vom Objekt seiner Begierde, was er selbst verneint: Liebe. Selbst-Liebe. Selbst in Liebe sein. Sein.

Dumm, wenn dieses sich bemüht, solchen Ansprüchen gerecht zu werden, sich dem Nicht-in-Liebe-Seienden in Liebe zu widmen. In unserer Welt wimmelt es von Dummen.

Sie tun dies und das und jenes, um dem anderen zu gefallen, seinen Erwartungen zu entsprechen, ohne damit je ans Ziel zu gelangen.

Und du? Was tust du alles? Für wen auch immer? Nachdem du den kleinen Finger reichtest und beide Hände verlorst? Gefolgt von deinem ganzen Körper im Dienste der anderen?

Warum tust du das?

Weil du selbst nicht in Liebe bist.

Wer das ist, gilt als egoistisch oder gar empathielos. Der kümmert sich nicht um die unerfüllbaren Flausen im Kopf seiner liebeshungrigen Fans. Dann folgt deren Projektion: Der wahrhaft in Liebe Seiende wird beschimpft. Verfolgt. Zu Tode gehasst.

Ein Drama. Und du spielst mit, wenn du dich erpressen lässt. In Angst versetzt. Angst. Mit Angst bezahlt. Angst lügt. Immer. Die Wahrheit findest du im Sein.

Jutta Riedel-Henck, 7./8. Oktober 2024

 

aus: Jutta Riedel-Henck. Musikempfinden: Das Lied der stummen Seele. 30. Juli 2024 – ...