Werdersee, Bremen

„Habt ihr Eis?“ Auf den Spuren meiner alten Heimat in Bremen zieht es mich zu einem Kiosk am Werdersee.

„Ja!“

Ich schaue zum Durchreichfenster in den Innenbereich des kleinen Pavillons und suche vergeblich nach einer Eiskarte. „Was habt ihr denn da?“

Der freundliche Mann deutet auf ein Stellschild hinter meinem Rücken. Ich drehe mich um. „Ach ...!“

„Ja, was so kurz vor einem steht, sieht man oft nicht“, meint er lächelnd.

„Brett vor dem Kopf“, antworte ich amüsiert und wähle ein Cornetto Haselnuss.

Wer fragt, bekommt Antworten. Viele Menschen wagen nicht zu fragen. Weder nach dem Weg noch nach einem Hinweisschild. Das Nicht-Wissen ist nur schick, wenn es philosophisch aufbereitet als Ausstellungsstück an irgendeinen öffentlichen Nagel gehängt wird. Von Nietzsche, Sokrates, Wittgenstein und all den anderen Geistesgrößen der Denkmal-Geschichte. Vor ihnen steht der Gläubige mit offenem Mund und staunt. Sie haben immer Recht. Auch und gerade dann, wenn niemand sie versteht. Man versteht halt, was man nicht versteht.

Das Eis in meiner Hand verstehe ich nicht. Ich beiße genüsslich in den Schokoladenrand mit Haselnussstückchen und spaziere über die Brücke auf die andere Seite des Wassers. Drei Männer auf einer Bank plaudern miteinander und trinken Bier.

Mehr als 30 Jahre sind vergangen bzw. ich bin es oder wer auch immer da gegangen ist. Erinnerungen steigen in mir hoch, ich vergesse die Linearität zeitlichen Denkens. Bin wieder da, wo ich war. Was war, ist jetzt. Als hätte sich nichts verändert – außer ich selbst. Mein Empfinden ist weiter geworden. Tiefer. Glücklicher. Was für eine schöne Gegend, in der ich damals zu Hause war. Und nach wie vor bin. Gerade in dem Moment der Wahrnehmung, des Daseins. Wie konnten all die kranken Gedanken mich lähmen und bedrücken? Die ich mir anzog, überziehen ließ? Ihr seid mir so was von egal!

Wenn die Seele erwacht, schweigt die Lüge.

Ich übe. Weiter. Die Lüge anzuschauen, während ich bin. Von mir zu trennen, indem ich sie als fremd und krank entlarve. Ich schule mein Immunsystem. Je mehr ich lerne, desto mehr möchte ich lernen. Die Schönheit der Welt erkennen. Wahrhaft staunend.

Glückseligkeit. Jede Träne eine Spülung. Klärung. In meinem Rucksack neue Farben für Bilder, die ich mir schenken will. Lebensfreude. Entgegen all den Drohungen. Der Räumungsklage. Dem Gerichtstermin. Den Klägern. Der Klägerin. Klagenden Menschen. Die mich im Unrecht sehen und darauf bestehen, dass ich ihnen glaube. Mich unterwerfe. Ihren kranken Gedanken. Schreckgestalten. Für mich. Seelenlose Gestalten. Lieblos in die Welt getrieben. Abgetrieben und doch geboren. Können sich nicht entscheiden. Warum nur?

Ich stehe auf. Immer wieder. Entscheide mich für das Leben. Mein Lebendigsein. Mein Glück. Meine Liebe. Den Genuss des Hierseins. Vorbereitet auf die Hässlichkeit spukender Geister. Spuckend wie eine Möwe aus dem Himmel. Na und? Scheißt mir doch auf den Kopf! Ich weiß ihn mir zu waschen.

Das Leben ist schön.

 

aus: Geldwertgefühl. Deinstedt: Kompost-Verlag, 2022, S. 130–132.